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Die jüngsten menschenverachtenden Aussagen eines gewissen Politikers zum Thema Inklusion beschäftigen nicht nur nahezu alle Sozial- und Wohlfahrtsverbände, sondern auch die Lebenshilfe Freising.

Warum es in Sachen gleichberechtigter Teilhabe überhaupt nichts zu diskutieren gibt

und welchen Hintergrund das Regenbogen-Logo der Lebenshilfe Freising hat, beantwortet Geschäftsführer der Lebenshilfe Freising, Johannes Reicheneder, in einem Interview mit Nicola Bauer, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der Lebenshilfe Freising.

„Nicht weghören, sondern Zivilcourage beweisen und hinhören!“

Nicola Bauer: Herr Reicheneder, seit einiger Zeit gibt es in Deutschland wieder besorgniserregende Tendenzen, was die Vielfalt und vor allem die Inklusion – also die Tatsache, dass jeder Mensch ganz natürlich dazugehört – angeht. Was macht das mit Ihnen, wenn Sie hören, Inklusion sei ein "Ideologieprojekt", das unsere Schüler*innen nicht weiterbringe?

Johannes Reicheneder: Es ist unerträglich für mich, solche Aussagen lesen oder gar hören zu müssen. Damit ist eine neue Qualität der Menschenverachtung erreicht und eine klare Grenze überschritten worden. Es ist nicht nur ein Skandal, sich so zu äußern, sondern auch abstoßend. Inklusion ist nicht verhandelbar und es kann auch nichts relativiert werden. Wir können gerne über Probleme diskutieren, aber nicht über den Sinn von Inklusion. Wir als Lebenshilfe Freising verwehren uns dagegen, Inklusion wieder abschaffen zu wollen, das ist schließlich kein Projekt, sondern ein unteilbares Menschenrecht. Gleichberechtigte Teilhabe zeichnet unsere Demokratie aus und da gibt es weder etwas zurückzunehmen, noch Grenzen zu ziehen.

Der Queer-Beauftragte des Bundes, Sven Lehmann, spricht sogar vom "Ende der Menschenrechte".

Ja, mit solchen Aussagen sind wir da vermutlich näher dran als uns lieb ist. Ich bin da auch ganz der Meinung von Jürgen Dusel, dem Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, der sagt: ‚Wer Inklusion in Frage stellt oder gar abschaffen will, greift die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland an.‘ Für mich ist Menschenrecht grenzenlos.

Sie sprachen eingangs davon, dass es bei der Inklusion nichts zu relativieren gibt. Was genau meinten Sie damit?

Mit relativieren meine ich, wenn jemand nach einer unachtsamen Aussage etwa hinterherschiebt, das sei ja lustig oder nicht so ernst gemeint gewesen. Oder wenn jemand im Umfeld einer solchen Aussage behauptet: ‚Das habe ich ja gar nicht mitbekommen.‘ Nein! Solche menschenverachtenden Aussagen sind nicht zu relativieren! Political correctness, gerade im Bezug auf die Sprache, ist wichtiger denn je. Wir müssen viel bewusster werden, in dem, was und wie wir Aussagen treffen. Es gilt für uns, eine Brandmauer zu ziehen und uns klar von Diskriminierungen aller Art abzugrenzen. Wir müssen aufstehen, uns zur Wehr setzen und solche Leute in ihre Grenzen weisen. Nicht die Inklusion hat Grenzen, sondern Demokratiegegnern sind ihre Grenzen aufzuzeigen.

Wenn jemand sagt: ‚Inklusion hat Grenzen.‘ – Dann muss ich sagen: Nein, wenn es um Menschenrechte geht, dann hat Inklusion keine Grenzen. Wenn es um die Bedingungen dafür geht, ok, dann gibt es ehrlicherweise Grenzen. Diese liegen aber nicht im Menschen selbst oder im Recht an sich, sondern eher im Zustand unserer Gesellschaft und unserer Demokratie. Wenn man will, geht aber ziemlich viel; meist mehr, als man für möglich hält. Und es hat auch niemand gesagt, dass der Weg zur Inklusion ein Spaziergang sei…

Die Bundesvereinigung Lebenshilfe hat bereits im März 2021 eine Kampagne gestartet, die von vielen Verbänden mitunterzeichnet wurde. Darin wendet sie sich gegen jegliche Form von Ausgrenzung und Diskriminierung und tritt ein für Menschlichkeit und Vielfalt. Die aktuelle Entwicklung in Deutschland wird darin mit großer Sorge betrachtet. - Was würden Sie sagen: Gibt es heute Grund zur Sorge?

Ja, es gibt leider absolut Grund zur Sorge. Denn wir erleben wieder: Hass und Gewalt gegen Menschen aufgrund von Behinderung, psychischer und physischer Krankheit, Religion oder Weltanschauung, sozialer oder ethnischer Herkunft, Alter, sexueller Identität und nicht zuletzt gegen Personen und Politiker*innen, die sich für eine offene und vielfältige Gesellschaft engagieren.

Offene menschenverachtende Aussagen „sogenannter“ Politiker*innen können bereits vorhandene Alltagsvorurteile wie zum Beispiel, dass Menschen mit Behinderung nur laut seien, geschürt werden. Wenn ein gedankenloser Mensch unempathisch spricht, nimmt er vielleicht Menschen mit, die sich noch keine Gedanken gemacht haben und unachtsam nachplappern. Polemische und populistische Aussagen wie Inklusion sei ein Ideologieprojekt sind brandgefährlich. Und Inklusion betrifft ja auch nicht nur die Behindertenhilfe, sondern die Werte unserer Gesellschaft und die Ethik aller Wohlfahrtsverbände.

Seit dem Deutschen Diversity-Tag am 23. Mai erstrahlt das Logo der Lebenshilfe Freising in Regenbogenfarben. Wollten Sie damit auch ein Zeichen setzen?

Wir haben nicht nur mit dem Regenbogen-Logo, das übrigens unsere Fachreferentin für sexuelle Bildung und Beratung, Gloria Dorsch, entworfen hat, ein Zeichen gesetzt, sondern auch mit unserem Sommerempfang und der Podiumsdiskussion zum Thema "Inklusion – zwischen Utopie und Wirklichkeit". Alle Teilnehmenden – Holger Kiesel, Johannes Becher, Irmi Hierhager und Stefan Schaaf – waren sich einig, dass Inklusion gar keine Frage oder Wahl sei, sondern absolutes Menschenrecht.

Die Lebenshilfe Freising ist ein Arbeitgeber für alle Menschen. Unsere Vielfalt wird öffentlich gefeiert, etwa auch mit dem Video zum Diversity-Tag, in dem sich 55 Personen – passend zu 55 Jahren Lebenshilfe Freising – mit dem Schild ‚Ich bin die Lebenshilfe Freising‘ haben ablichten lassen. Wir möchten ein Bewusstsein für die Verschiedenheit schaffen und wie diese unsere Gesellschaft bereichern kann. Ich hätte zunächst gar nicht gedacht, dass das neue Logo und der Spruch so aktuell werden würden und sich so viele unserer Mitarbeitenden damit identifizieren. Für uns ist das also nicht nur ein schicker Marketingsatz. Im Übrigen fand diese Aktion bereits einige Monate vor den krassen politischen Äußerungen, über die wir vorhin sprachen, statt. Wir waren also auch vorher schon ‚da‘!

Möchten Sie einen Schlussappell an die Lesenden richten?

Politik kann nicht alles richten. Jede Person muss selber aufstehen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten Grenzen ziehen. Man kann bei unachtsamen Äußerungen zum Beispiel nachhaken: ‚Wie genau hast Du das gemeint?‘ oder ‚Hast Du das ernst gemeint?‘

Wenn Menschen weghören, haben wir keine Chance, das Ruder herumzureißen. Wenn wir aber lernen, im Kleinen Grenzen aufzuziehen, dann ist das Ganze vielleicht wieder in den Griff zu kriegen. Zivilcourage und Demokratieverantwortung sind hier nur zwei Schlagworte, die ich nennen möchte. Nicht weghören und tolerieren, sondern die eigenen Möglichkeiten wahrnehmen und handeln – dafür plädiere ich.

Vielen Dank für das Gespräch!

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