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Ist Inklusion eine Illusion? – Lebenshilfe-Geschäftsführer macht mit freudschem Versprecher im Rahmen einer Podiumsdiskussion beim

Sommerempfang der Lebenshilfe Freising

auf Handlungsbedarf aufmerksam

Ist Inklusion eine Illusion? - Sommerempfang der Lebenshilfe Freising 2023

Während des Sommerempfangs der Lebenshilfe Freising am Dienstag, den 11. Juli 2023, in der Aula des Bildungszentrums Gartenstraße (BiG) begrüßte Geschäftsführer Johannes Reicheneder die rund 160 Gäste in der „Schule mit Schwerpunkt Illusion“. Ein freudscher Versprecher, der zufällig jedoch genau passend zum Thema der angesetzten Podiumsdiskussion „Inklusion – Zwischen Utopie und Wirklichkeit“ passte, wollte Reicheneder doch eigentlich das private Förderzentrum mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung / Schule mit Profil Inklusion vorstellen. Nicht nur diese Einleitung, sondern auch die folgende Diskussion mit dem Behindertenbeauftragten Bayerns, Holger Kiesel, MdL Johannes Becher (Bündnis 90/Die Grünen), Irmi Hierhager von der Elternvereinigung FINI und Konrektor Stefan Schaaf stellte deutlich heraus, dass im Regelschulsystem kaum Raum für Inklusion sei – dies jedoch gleichzeitig die einzige zielführende Möglichkeit für zukünftige Schüler*innen mit Behinderung ist. Inklusion brauche Rahmenbedingungen, gerade in der Schule, und nicht eventuell eine weitere Förderschule, weil die bisherige an ihre räumlichen Kapazitäten gekommen sei.

Den Auftakt zum Sommerempfang, der mit einem Sektempfang  um 18:00 Uhr startete, machte Monika Haslberger: Freudig, dass sich die Lebenshilfe nach drei Jahren endlich wieder in der Öffentlichkeit präsentieren kann, hob die Vorstandsvorsitzende jedoch gleich den dringenden Nachholbedarf im Kinder- und Jugend- und damit vor allem im schulischen Bereich hervor: Vor elf Jahren sei das BiG eingeweiht worden – und nun ist es bereits zu klein für den Andrang von außen. Neben einem herzlichen Dank an alle Spender*innen, ohne die zahlreiche Projekte nicht realisiert werden könnten, begrüßte Haslberger somit auch das schulische Personal, welches zahlreich der Einladung zum Sommerempfang gefolgt war. „Vielleicht ergeben sich ja im Laufe der Gespräche an diesem Abend auch neue Wege der Zusammenarbeit“, schloss Haslberger ihre Begrüßung; voller Hoffnung, einen Ausweg aus der Platzknappheit im Förderzentrum finden zu können.

Auch OB Tobias Eschenbacher freute sich in seinen Grußworten über den großen Andrang, um sich auszutauschen. Er betonte jedoch auch, dass durch die äußeren Einflüsse der Pandemie der Alltag in den Schulen extrem gestört worden sei. Bezüglich des Platzmangels sagte Eschenbacher, das BiG sei so erfolgreich, dass es aus allen Nähten platze; eben weil die Lebenshilfe so vielen Menschen Hilfe biete. „Wir müssen dringend reden, wie es weitergeht“, so der OB.

Podiumsdiskussion zum Thema „Inklusion – Zwischen Utopie und Wirklichkeit“

Nach den einleitenden Grußworten übernahm Geschäftsführer Johannes Reicheneder das Zepter: Gekonnt leitete er zur geplanten Podiumsdiskussion zum Thema „Inklusion – Zwischen Utopie und Wirklichkeit“ über und begrüßte dazu den Behindertenbeauftragten Bayerns, Holger Kiesel, MdL Johannes Becher (Bündnis 90/Die Grünen), Irmi Hierhager von der Elternvereinigung FINI und Konrektor Stefan Schaaf in der Gesprächsrunde. „Inklusion ist unsere Mission“, betonte Reicheneder: „Aber Inklusion scheint auch ferner denn je; ist sie gar eine Illusion?“ Inklusion brauche Rahmenbedingungen, gerade in der Schule. Diese fehlen aber und der Geschäftsführer stellt sich die Frage, ob die Regelschulen vielleicht vorschnell eine Grenze zögen?

Geht Barrierefreiheit auch ohne bauliche Aspekte?

Die erste Frage in der Runde widmete sich dann auch der Barrierefreiheit beziehungsweise Zugänglichkeit. Kiesel ist der Meinung, dass Barrierefreiheit mehr als die Beseitigung von (sichtbaren) Barrieren sei. Auch Menschen mit Sinnesbehinderungen müssten mitgedacht werden. „Da bin ich ein großer Fan der Leichten Sprache“, so Kiesel. „Die hilft nicht nur Menschen mit Behinderungen, Dinge leichter zu verstehen.“ Außerdem müsste dringend damit aufgehört werden, immer neue Barrieren zu schaffen. Becher machte ebenfalls klar, dass es nach wie vor viel zu viele Barrieren gäbe, die meisten jedoch im Kopf der Menschen seien. Natürlich sei Barrierefreiheit auch eine Geldfrage. Das sogenannte Gehörlosengeld, mit dem einmalig ein Dolmetscher gezahlt werden könne, sei jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Mit den Worten „Barrierefreiheit ist kein Geschenk, sondern ein Grundrecht“ zitierte Hierhager daraufhin den Aktivisten Raul Krauthausen. Sie – und auch die Menschen mit Behinderung – störe es vor allem, dass es so einen langen Atem brauche, bis etwas geändert würde. Vielleicht birgt die Digitalisierung in Sachen Barrierefreiheit eine Chance. Schaaf, der für diese im BiG zuständig ist, bezeichnete sie als „Mitgewinn der Pandemie“ und spricht von „Quantensprüngen“, die in dieser Zeit plötzlich möglich geworden seien. „Die Schüler*innen nutzen die Angebote sehr intuitiv, vor allem Unterstützte Kommunikation ist gar nicht möglich ohne die digitalen Angebote“, berichtet der Konrektor. Er gibt jedoch auch zu bedenken, dass Lehrer*innen Digitalisierung gar nicht gelernt hätten und nicht darauf vorbereitet würden. Er selbst ist mit nur zwei Stunden pro Woche als Systembetreuer für die ganze Schule zuständig, was zeitlich überhaupt nicht umsetzbar sei.

Suchen wir Wege, um Inklusion in der Schule zu leben und zu fördern? Oder ist Inklusion eine Illusion?

Bei der zweiten Frage zur schulischen Inklusion nahm die Diskussion bereits deutlich mehr Fahrt auf. Trotz verschiedener Ansätze und auch teilweise differenzierter Ansichten waren sich alle Teilnehmer*innen einig: Wir wollen keine zweite Förderschule bauen, auch wenn die bisherige an ihre räumlichen Grenzen gekommen sei. Die Zukunft sehen alle Beteiligten in der Umsetzung von Inklusion innerhalb der Regelschulen, die jedoch andere Rahmenbedingungen schaffen und umsetzen müssten.

„Im Regelschulsystem ist kein Raum für Inklusion“, bedauert etwa die FINI-Aktivistin. Ohne den ehrenamtlichen Einsatz der Eltern wäre nichts möglich. „Wir versuchen, unsere Kinder in das selektive Schulsystem reinzudrücken. Meine Utopie ist aber eine Schule, die sich dem Kind anpasst!“, betont Hierhager. Es könne nicht sein, dass ein Kind mit Behinderung aus seinem gewohnten Umfeld, seinem Dorf, seinem Zuhause herausgerissen werde, nur um mit dem Bus etliche Kilometer quer durch den Landkreis in eine Förderschule gefahren zu werden. Der Anschluss an das soziale Umfeld würde somit erheblich erschwert.

Die Kernfrage laut dem Bayerischen Behindertenbeauftragten ist die nach der Durchlässigkeit: „Wie komme ich als Mensch mit und ohne Behinderung da hin, wo ich hin will?“ Aus diesem Grund plädiert Hierhager, die eine Lanze für die Lehrer*innen bricht, die einen „mega Job machen“, ganz stark für eine Änderung des Systems – und zwar schnell. Auch Kiesel ist der Meinung, dass die allermeisten Lehrer*innen gerne Inklusion umsetzen würden, aber man ihnen eben die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür schaffen müsse. Die Frage sei nicht, ob Inklusion stattfinden solle, sondern wie. Natürlich ist eine Umsetzung mit Kosten verbunden; das Geld sei laut Kiesel jedoch da, es stelle sich nur die Frage nach der Prioritätensetzung. „Wenn wir das Geld nicht für Bildung ausgeben, wofür denn dann?“, stellt auch Becher die rhetorische Frage in den Raum. „Inklusion ist keine Utopie“, so Becher weiter, „denn wir haben die Umsetzung in der UN-Konvention unterschrieben. Allerdings sind wir noch lange nicht am Ziel.“ Wir alle seien Inklusion und somit Teil einer inklusiven Gesellschaft, aber wie auch Hierhager fordert der MdL entschieden mehr Geschwindigkeit in der Umsetzung.

Schaaf hingegen wartet mit einigen Beispielen auf, dass es bereits „vorwärts“ geht: Die Lebenshilfe hat bislang einige Partnerklassen im Landkreis gewonnen, seit Jahren steigt die Anfrage an die Mobilen Sonderpädagogischen Hilfen, was wiederum zeigt, dass Kinder mit Behinderungen an Regelschulen beschult werden, und es gibt in Freising drei von sieben Tandemklassen in ganz Oberbayern. Hierhager entgegnet, dass die Kinder, die eine Partnerklasse besuchen, aber im Förderzentrum angemeldet seien und es somit trotzdem Unterschiede, vor allem aus verwaltungstechnischer Sicht, gäbe, die auch die Schüler*innen zu spüren bekämen. Ihre Forderung: „Unsere Kinder müssen am Wohnort ihren Raum finden können, denn Partizipation und Zugehörigkeit sind extrem wichtig. Jetzt muss es weitergehen!“ Schaaf ergänzt: „Man muss sich aber nicht schämen, wenn man im BiG angemeldet ist.“

Was wünschen Sie sich?

Zur Abschlussrunde der Podiumsdiskussion durften die Teilnehmer*innen schließlich einen Wunsch aussprechen:

Irmi Hierhager plädierte für Mut, Kreativität und Offenheit und forderte alle Bayern auf, hinzuhören: „Das gibt es schon in anderen Bundesländern, Ihr müsst es nicht neu erfinden!“ und „Werden Sie politisch, ändern Sie’s wirklich!“, machte sich die Aktivistin stark. „Und bauen Sie auf keinen Fall ein weiteres Förderzentrum!“

Holger Kiesel wünscht sich vom Schulsystem, aus den parallelen Autobahnen einen gemeinsamen Weg zu gestalten, von dem jede*r immer und überall abbiegen könne, je nachdem wie es gerade nötig sei.

Während Stefan Schaafs größter Wunsch zwei Handvoll Lehrer*innen, genauso viele Pflegekräfte und weitere 55 Jahre Lebenshilfe mit dieser hohen Fachlichkeit ist, sprach Johannes Becher mit der Aussage „Inklusion ist not nice to have, sondern Anspruch“ vielen Anwesenden aus der Seele. Auch er wünschte sich für die Lebenshilfe den Mut, weiterzumachen und den Finger zu heben.

Bei der Danksagung durch Johannes Reicheneder für die Redebeiträge seiner Gäste, stellte dieser ebenfalls klar, was den Abend über immer wieder durchblickte: „Wir wollen keine weitere Schule bauen. Wir wollen das System nicht noch weiter füttern.“

Inklusion muss auch in der Arbeitswelt ankommen

Während des gesamten Sommerempfangs durften sich die 160 geladenen Gäste neben aller Fachlichkeit auch immer wieder über einen Hörgenuss freuen: Die Feger Spezies unterhielten „griabig, groovig und guad“ mit Brassmusik auf höchstem Niveau. Mit modernen Coversongs und neu arrangierten Blasmusik-Klassikern boten sie beste Unterhaltung während des Abends. Auch die Musik der Feger Spezies sei inklusiv, sagte Robert Wäger, stellvertretender Vorsitzender des Lebenshilfe Freising e.V. in seinen Abschlussworten. „Sie mixen bayerische Musik mit diversen anderen Stilen.“

Zusammenfassend stellte Wäger fest, dass Reicheneders Versprecher am Anfang, in einer Schule mit Schwerpunkt „Illusion“ zu sein, perfekt zum Thema des Abends gepasst habe. „Wir müssen als Institution Lebenshilfe den Weg weitergehen. Helfen Sie uns, dass wir kein weiteres Förderzentrum bauen müssen!“, so auch sein Appell. „Wir müssen auch alle Arbeitgeber aufrufen, sich mit Inklusion in der Arbeitswelt zu befassen. Gemeinsam können wir es schaffen“, ist sich Wäger sicher.

Bevor gute Gespräche, auch mit der neuen stellvertretenden Geschäftsführerin Christina Binder, die seit 1. Juli bei der Lebenshilfe tätig ist (siehe Bild unten), beim (flying) Buffet des Viva Vitas im BiG-Innenhof folgten, dankte Haslberger nochmals offiziell dem Host-Town-Team, das vor den Special Olympics maßgeblich von der Lebenshilfe Freising unterstützt wurde (wir berichteten).

Ihren ersten offiziellen Auftritt beim Sommerempfang hatte auch Christina Binder (li.), die seit 1. Juli stellvertretende Geschäftsführerin bei der Lebenshilfe Freising ist. In ihrer neuen Rolle wird sie sich insbesondere um die Finanzen und das Fundraising kümmern. Ebenfalls fungiert sie als Koordinatorin im Bildungszentrum Gartenstraße. Mit ihrem Engagement und ihrer Expertise wird sie nun die Arbeit der Lebenshilfe bereichern. Auf dem Bild war Binder im Gespräch mit MdB Andreas Mehltretter (SPD, re.).

Rund 160 geladene Gäste kamen am Dienstag, den 11. Juli 2023, zum Sommerempfang in die Aula des Bildungszentrums Gartenstraße der Lebenshilfe Freising. Als special guests waren unter anderem Holger Kiesel, Bayerischer Behindertenbeauftragter (unten li.), und MdL Johannes Becher (Bündnis 90/Die Grünen, unten re.) mit dabei. Der letzte Empfang der Lebenshilfe fand aufgrund der Corona-Pandemie bereits 2019 statt.

Nicht nur die Selbstvertreter*innen der Lebenshilfe-Einrichtungen, sondern auch die zahlreichen Gäste genossen bei bestem und heißem Wetter die Erfrischungen sowie das flying buffet des Viva Vita im Innenhof des BiGs.

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