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Interview mit Johannes Reicheneder

Die EUTB® (Fachstelle Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung) Markt Schwaben stellt unserem stellvertretenden Geschäftsführer, Johannes Reicheneder, fünf Fragen zur Inklusion.

Johannes Reicheneder
Stellvertretender Geschäftsführer
Lebenshilfe Freising e.V.

wünscht sich, dass mehr Menschen mit geistiger Behinderung selbstbestimmt leben können und ihr Wille ernst genommen wird.
Menschen mit Behinderung brauchen eine politische Stimme und eine Sprache, damit sie eine für sie passende Unterstützung finden. Dafür setzt sich die Lebenshilfe Freising mit rund 700 Mitarbeiter:innen in über 30 Einrichtungen und Diensten ein.

Johannes Reicheneder im Interview mit der EUTB

Aus dem Leitbild der Lebenshilfe FS: "Menschen mit Behinderung sind Experten in eigener Sache. Das Wichtigste ist ihre Beteiligung und Mitgestaltung. Die Lebenshilfe Freising schafft dafür die Voraussetzungen: In allen Gremien und bei allen Veranstaltungen sind immer auch Menschen mit Behinderung beteiligt. Dabei bekommen sie die Unterstützung, die sie brauchen, um ihr Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung (gegebenenfalls mit Assistenz) ausüben zu können."

Herr Reicheneder, denken Sie an alles, was Sie heute gemacht haben (zu Hause, unterwegs, bei der Arbeit). Was haben Sie heute verwendet, was man als inklusiv bezeichnen könnte? (z.B. eine automatische Tür oder die Alexa)

Ich habe zuhause ein Umfeldsteuerungssystem, was ich heute auch benutzt habe. Durch Umfeldsteuerung können Menschen mit Beeinträchtigungen einfache Handlungen in der häuslichen Umgebung wie Türen öffnen, Licht ein- und ausschalten, das Fernsehprogramm auswählen auch selbst übernehmen. Dadurch kann mehr Unabhängigkeit und Selbstbestimmung im eigenen Zuhause erzielt werden. Umfeldsteuerung bedeutet viele Möglichkeiten für alle Menschen zu haben, egal, ob mit oder ohne gesundheitliche Einschränkungen: Sprachbefehle, eine zentrale Fernbedienung, einen Joystick, Augensteuerung und Vieles mehr.


Ist Oberbayern in den letzten 10 Jahren inklusiver geworden?


Nein! Wir tun oft nur so, als ob unsere Gesellschaft inklusiver geworden wäre und man redet tatsächlich mehr darüber. Das ist oft im Bereich Kinder und Jugend festzustellen, auch wenn Inklusion da großgeschrieben wird. Schaut man sich die Rahmenbedingungen in den Einrichtungen genauer an, merkt man was ich als „Etikettenschwindel“ oder „nette Bemühungen“ bezeichnen würde. Im Erwachsenenbereich ist Inklusion auch nicht viel besser, ohne die Angebote von Lebenshilfe oder Caritas wäre es schwierig für Menschen mit Behinderung in der Region selbstbestimmt zu leben, zu wohnen oder zu arbeiten. Wir bei der Lebenshilfe sind auf alle Fälle inklusiver geworden, wir haben z.B. Menschen mit geistigen Behinderungen, die feste Sitze in Entscheidungsgremien oder im Vorstand haben (wohl bemerkt, die treffen sich auch nicht so oft).


An was denken Sie zuerst, wenn Sie den Begriff „unsichtbare Behinderung“ hören?


Ich denke spontan an Überforderung. Zum Beispiel, wenn jemand nicht lesen kann, findet man nicht die Unterstützung, die man bräuchte und das führt zur Überforderung. Manchmal entsteht aber leider auch eine resignierte Zufriedenheit, wo die Menschen, die nicht gesehen werden, aufhören, selber aktiv zu werden oder auch Meinungen zu äußern.


Stellen Sie sich vor, Sie wären arbeitssuchend und hätten eine Behinderung. Mit welcher Gesundheitseinschränkung hätten Sie in Ihrer Region die besten Chancen eine Stelle zu finden?


Wahrscheinlich mit einer unsichtbaren körperlichen Behinderung hätte ich die besten Chancen. Mit einer chronischen Erkrankung wäre es wahrscheinlich am schwierigsten, das wäre bei vielen Arbeitgebern mit Ängsten verbunden.


Kennen Sie persönlich einen Menschen, der mit einer Behinderung ein erfolgreiches, glückliches Leben führt? Wenn ja, welche Stärken haben dazu geführt?


Viele Menschen mit Behinderung leben ein glückliches, erfülltes Leben. Wenn mit Erfolg berufliche Gleichstellung, Tarifbeschäftigung, „raus aus der Grundsicherung wegen Erwerbsminderung“ gemeint ist, dann glaube ich die Wege sind recht frustrierend, manchmal auch unerreichbar. Das ist besonders für Menschen mit geistigen Behinderungen Realität.

Datum: 01.04.2022

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Kommentare

  • Kommentiert von admin am 11.10.2023

    Herzlichen Dank für Ihre positive Rückmeldung, Frau Mayer!

  • Kommentiert von Elisabeth Mayer am 05.10.2023

    Ich freue mich sehr, dass Herr Reicheneder in der ganzen Inklusionsdebatte die Realität nicht nur erkennt sondern sie auch offen anspricht. Diese klaren Worte fehlen mir in allen Aussagen der Bundesvereinigung Lebenshilfe, was leider der Gesellschaft ein völlig falsches Bild vom momentanen Stand der Inklusion aufzeigt. Mit herzlichen Grüßen Elisabeth Mayer, Mutter von Viktoria (55Jahre, Down-Syndrom)

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